LVM IV/5 Cure Terrenorum - Celestis Desideriis
Aber das fünfte Bild sah ich in Menschengestalt.
Bleiche Haare hatte es,
stand in der Finsternis nackt wie in einer Tonne da.
Es sprach:
CURAE TERRENORUM - Alltagssorgen
Besser ist Arbeit an Mühen dieser Zeit,
wo Wiesen, Obstbäume, Trauben sind,
alles Notwendige zum Leben wächst,
was Menschen Nahrung bietet und Unterhalt.
Vergössen meine Augen Tränen,
schlüge ich mir mit Seufzern auf die Brust,
oder beugte meine Knie,
hätte ich weder Nahrung noch Kleidung,
sondern litte Mangel.
Riefe ich zum Himmel,
bäte Sonne, Mond und Sterne um meinen Lebensunterhalt,
brächte mir das nichts ein.
Drum ziehe ich alles an mich,
was ich bedenken, reden, wirken kann,
solange ich vermag, auf Erden zu leben.
Wieder hörte ich,
wie eine Stimme aus der Sturmwolke
diesem Bilde Antwort gab:
CELESTIS DESiDERIIS - Mit Himmelssehnsucht
Mit Sehnsucht nach dem Zeitlosen:
Seelenräuber, was sagst du?
Trügerisch dein Geist,
vertraust nicht Gott,
der alles Notwendige bereitet.
Wie Leib nicht ohne Seele leben kann,
wächst ohne Gottes Gnade nicht eine Erdenfrucht.
Denk an Gebeine von Verstorbenen
in ihren Gräbern.
Bedenke, was sie tun.
Nichts wirken sie, liegen vielmehr im Verfall.
So wirkst auch du nichts,
sondern lebst nachlässig.
Willst ohne Gottes Gnade leben,
hast keine Sehnsucht,
suchst in all deiner Anstrengung nicht Gott.
Wohne aber in den Höhen,
finde mit Gottes Gnade alles in der Schöpfung.
Bin Leben, Grünkraft in allen guten Werken,
Zier aller Kräfte.
Bin auch Freude, Verstehen von Gottes Liebe,
Bau all seiner Sehnsucht.
Denn, was immer Gott will, das bewirke ich.
Fliege mit Flügeln guten Willens
hoch über den Sternenhimmel.
Vollbringe so in all seinem Ratsschluss
Gottes Willen.
Steige so auch über Bethels Berge.
Betrachte dort Gottes Werk
von Angesicht zu Angesicht.
Bedarf so, noch wünsche, noch will etwas
außer dem, was heilig.
Bin so Psalter und Laute seiner Freundlichkeit.
Und auf diese Weise in allen Dingen himmlisch.
Hildegard von Bingen - LVM IV