LVM III/2 Invidia – Caritas
Das zweite Bild, sah ich, hatte Monstergestalt.
Kopf, Schultern und Arme ähnelten etwa einem Menschen.
Nur die Hände waren wie die eines Bären,
Brust, Bauch und Rücken über Menschenmaß gedehnt.
Ab den Lenden ähnelte es wieder einem Mensch.
Hatte nur hölzerne Füße.
Sein Kopf war feurig.
Spuckte Flammen mit seinem Mund.
Trug kein weiteres Gewand,
sondern war ganz in Finsternis gebunden.
Beugte seine rechte Schulter über die Schatten.
Sprach:
INVIDIA - Neid
Hüte und bewache alles Übermaß.
Vertreibe alle fruchtbare Grünkraft, wo ich will.
Unterdrücke passende Worte.
Wären sie so zahlreich wie das Meer weit,
klug wie Schlangen, ich zermahle sie.
Mir können sie nicht widerstehen.
Denn ich heiße Abgrund.
Ziehe so viele an mich.
Besudele alles, was Gott wirkt.
Kann ich Leuchtendes nicht haben,
achte ich es für nichts.
Benetzen mich jene, die mich Nacht nennen,
mit ihren Wassern, trockne ich schnell.
Richte auch meine Rede wie Pfeile in die Finsternis,
verletze, die sich recht im Herzen nennen.
Denn wie Sturm sind meine Kräfte.
Alles, was mein, gebe ich dem Hass.
Geringer als ich, nährt er sich an mir.
Und wieder hörte ich aus der Sturmwolke,
wie eine Stimme diesem Bilde Antwort gab:
CARITAS - Liebe
Oh, schärfster Dreck.
Bist wie eine Viper, die sich selber sticht.
Kannst nicht ertragen,
was standhaft und ehrenvoll.
Bist auch der Götzen wider Gott,
vernichtest Völker im Unglauben.
Nennst dich daher zurecht Abgrund.
Der hält allem rechten Maß Übermaß entgegen.
Will alles zerfetzen, was in Weisheit entsteht,
damit an leuchtenden Dingen nichts gelingt.
Bin aber jener Hauch, nähre alle Grünkraft,
bringe Blüten mit reifen Äpfeln hervor.
Bin denn belehrt in aller Eingebung
von Heiligem Geist.
Lasse so hellste Bäche springen
wie Tränen einer guten Sehnsucht.
Bringe in sehr heiligen Werken
aus Tränen Wohlgeruch hervor.
Bin aber auch Regen,
wehe herab von jenem Tau.
Aus ihm lachen in frohem Leben
alle Grashalme mich an.
Trägst aber böswilligstes,
schlimmstes Gift in deinen Schwänzen.
Kannst das aber nicht vernichten.
Je mehr du wütest, umso mehr wächst es an.
Wo du dich sterblich zeigst,
leben jene Kräfte,
zeigen sich in Gottes Macht
als des Weinstocks Blüten.
Bist aber lästerhafter Frevel in der Nacht,
Teufelszischen, und begehrst nichts anderes.
Sagst in deinen Größenwahn:
Völker ziehe ich an, zahlreicher als das Meer weit.
Aber scheiterst.
Wirke denn Tag und Nacht
die Kraft der Gleichheit und der Guten Tat.
Breite denn meinen Mantel über Tag und Nacht.
Vollende tags alle guten Werke.
Salbe sämtlichen nächtlichen Schmerz.
So kann mich in keinem beider Teile
jemand verklagen.
Bin denn umsichtigste Freundin an Gottes Thron.
Keinen Ratsschluss verhehlt mir Gott.
Mein ist das königliche Brautgemach.
Alles, was Gottes ist, ist auch mein.
Wo aber Gottes Sohn mit seinem Gewand
Menschenfehler fort wischt,
verbinde ich Wunden mit sanftestem Leinen.
Aber du wirst rot.
Denn der bessere Teil gehört dir nicht.
Hildegard von Bingen - LVM III