Bildung & Brauchtum
LVM I/1 Amor Saeculi - Amor Caelestis
Das erste Bild hatte Menschenform.
Finster wie ein Brandgesicht,
umklammerte es nackt mit Armen und Schenkeln
einen Baum unter den Zweigen.
Aus diesen wuchsen Blüten aller Art.
Mit seinen Händen riss es Blüten ab,
und sprach:
AMOR SAECULI - Liebe zur Zeit
Beherrsche vollkommen die Welt
in ihren Blüten und Geschmeiden.
Wie kann ich welken, habe ich doch volle Lebenskraft?
Warum leben wie im Alter, strotze ich vor Jugendkraft?
Warum blind sein für schönen Augenschein?
Würde schamrot, das zu tun.
Solange ich die Schönheit dieser Zeit besitze,
halte ich gerne daran fest.
Anderes Leben? Mir unbekannt.
Fabeln höre ich davon, aber kenne es nicht.
Als es das sprach, verdorrte der Baum,
ging entwurzelt in Flammen auf,
und stürzte in den Schatten.
Und das Bild stürzte mit ihm.
...
Aus der Sturmwolke hörte ich
eine Stimme diesem Bild antworten:
AMOR CAELESTIS – Liebe zum Himmel (zum Zeitlosen)
Du bist so dumm.
Begehrst zu leben wie verglühende Asche.
Suchst nicht Leben,
in dem Jugendschönheit nie welkt,
das selbst im hohen Alter niemals abnimmt.
Dir fehlt alles Licht.
Bist von tiefschwarzer Finsternis.
Allzu menschliches Begehren bedeckt dich wie Ungeziefer.
Lebst für den Augenblick.
Verdorrst dann später - wie Heu.
Stürzst in einen See aus Untergang.
Verendest dort, völlig verfangen darin,
was du als Blüten siehst und nennst.
Bin aber Säule himmlischen Einklangs.
Habe vollkommener Lebensfreude Teil.
Weise das Leben nicht zurück,
vielmehr zerschmettere alles, was ihm schadet.
Verachte so auch dich.
Bin denn Spiegel aller Kräfte.
Wer glaubt, betrachtet sich gründlich darin.
Du aber läufst auf nächtlicher Bahn.
Deine Hände schaffen den Mangel.
Hildegard von Bingen. LVM I.