Bildung & Brauchtum
Das erste Bild hatte einen Kopf wie ein Hirschfohlen,
einen Schwanz wie ein Bär,
sein übriger Körper ähnelte tatsächlich einem Schwein.
Das Bild sprach:
INIUSTITIA - Unrecht
Über wen setze ich mein Recht?
Über niemand.
Beachtete ich dies und das,
wäre ich nicht Gottes Geschöpf.
Vielmehr wie ein Esel, der langsam daher trottet,
wird er nicht mit der Knute getrieben.
Ich bin weiser und klüger als andere.
Kenne Sonne und Mond, Sterne und übrige Geschöpfe,
richte jeden Fall, jedes Ding richtig ein.
Warum mich schamhaft zurückhalten,
als wüsste ich nichts?
Weise ich jemandes Bedingung zurück,
handelt er vielleicht genauso an mir.
Doch gehe ich nicht darauf ein,
ist meine Anordnung doch nützlicher.
Warum mich grämen, als wüsste ich nichts Gutes,
sind all meine Angelegenheiten doch nützlicher,
besser als anderer?
Mir geht es so gut wie jenen, die alles urteilen und werten.
Wieder hörte ich, wie eine Stimme aus der Sturmwolke
jenem Bilde Antwort gab:
IUSTITIA - Gerechtigkeit/Rechtschaffenheit/Recht
Verwirrende, schamlose Kunst,
was redest du?
Jede Unterstützung hat Gott so eingerichtet,
dass jedes auf ein anderes achtet.
Je mehr einer vom anderen weiß,
was er von sich nicht kennt,
um so mehr Bewusstsein ist in ihm.
Darum hat er auch ein achtsames Auge,
sieht sich vor, nicht in Gefahr zu geraten,
nichts zu riskieren in irgendeiner Gefahr.
Betrachtet denn der Mensch nicht,
wem er vorsteht im Befehl,
welche Geschöpfe ihm gehorchen,
welche Geschöpfe ihm dienen?
Mit der Geschöpfe Hilfe erarbeitet sich
der Mensch das Notwendige.
Gräbt Gärten mit der Hacke,
wendet Äcker mit dem Pflug.
Pflügen auch Ochsen,
befiehlt er ihnen doch, zu wandeln,
fasst jedes Geschöpf nach seiner Anlage,
was er davon zu seinem Nutzen braucht.
Warum verachtest du den Menschen,
in dem Himmel und Erde verstanden?
Warum verschmähst Du
Heiligen Geistes Lehre und Gabe,
die Heiliger Geist Menschen eingibt?
Denn Gott baut der Mensch den Tempel und Altar,
auf dem er ihm dient.
Erkenne darum im Menschen
Heiligen Geistes Gabe.
Weiss, dass er Werk Gottes ist.
Bin damit in Einklang.
Halte mit Recht die Königskrone
über Schöpfung und ihre Werke.
Betrachte sie in Ehre.
Wirke in ihren Werken mit,
so dass sie Freude an mir haben.
Denn auf der Gerechtigkeit Pfad
bin ich ihr Hirtenstab.
So fällt, wer mich verachtet,
in den Graben.
Vom springenden Quell ging ich hervor,
So schreckt mich kein Erdenfall.
Erhob mich mit dem Morgenrot.
Bin umsichtigste Gefährtin Gottes.
Verharre bei Gott. Weiche nicht von seiner Seite.
Bin durch ihn tiefgründige Heilkraft.
Falle nicht, fällt Dürre.
Bin denn aller Bäume Blüte,
die Winter nicht vertrocknen lässt,
die nicht fallen vor dem Sturm.
Wohne auf dem Berge Zion, bin in Ruhe,
wandle in des Lammes Wohnung,
erhebe mich in seinem Sieg.
Bin im Königssieg.
Niemand findet mich bezwungen.
Niemand bewegt mich. Niemand schreckt mich.
Denn ich falle nicht.
Hildegard von Bingen - LVM IV
Ich sah, wie der Mann sich nach Süden wandte
und so Süden und Westen betrachtete.
Und die Erde, in der der Mann stand
von seinen Knien bis zu seinen Waden,
hatte Feuchte, Grünkraft, Keimkraft in sich,
war dem Mann wie Blütenfülle seiner Stärke Schmuck.
Als wäre seine Kraft dadurch geschmückt,
fruchtbar zu sein in allen Arten.
Denn alle Gestalten an Erdengeschöpfen
bringt Erde hervor.
Ist auch im Menschen Urstoff Gottes Wirkens.
Das wiederum ist
Urstoff der Menschlichkeit des Gottessohns.
Hildegard von Bingen - LVM IV
Und ich sah, wie sich der Mann nach Norden wandte,
so dass er Norden und Osten sah.
Unter dem Himmelsgewölbe
dienten Winde, Luft, Grünkraft der Erde,
in denen der Mann
von seinen Hüften bis zu seinen Knien stand,
dem Mann von den Hüften zu den Knien wie ein Gewand.
Feuer und Leuchten der Luft schmückten dieses Kleid.
Von seinen Lenden gingen Elementarkräfte aus und
kehrten wieder, atmete der Mann aus und ein.
Und aus den Elementen der Welt hörte ich
zum Mann eine laute Stimme sagen:
"Wir können nicht laufen, unsere Bahn vollenden,
wie uns von unserem Meister bestimmt.
Mit ihrem schiefen Werk zerstören uns die Menschen
wie ein Mahlwerk.
So stinken wir wie Pest,
hungern völlig nach Gerechtigkeit."
Ihnen antwortete der Mann:
"Reinige Euch mit meiner Absicht wie mit Besen.
Peinige die Menschen so lange,
bis sie von überall zurückkehren zu mir.
Bereite in dieser Zeit viele Herzen nach meinem Herzen.
Reinige Euch, so sehr Ihr verdreckt,
in der Pein derer, die euch verdrecken.
Wer kann mich mindern?
Winde sind rauh geworden vom Gestank.
Luft erbricht Schmutz,
öffnen Menschen ihren Mund nicht,
das richtig zu stellen.
Grünkraft verdorrt
durch verdrehter Massen unrechten Aberglauben,
jedes Ding nach ihren Wünschen zu richten,
zu sagen:
"Wer ist dieser Herr, den wir niemals sehen?"
Antworte ihnen:
"Seht ihr mich denn nicht Tag und Nacht?
Seht ihr mich denn nicht, wenn ihr sät,
Regen Saat tränkt, so dass alles wächst?
Die ganze Schöpfung strebt zu ihrem Schöpfer.
Da Einer sie gemacht, versteht er sie vollkommen.
Aber der Mensch ist Aufwiegler,
teilt seinen Schöpfer in mehrere Geschöpfe.
Wer schuf in Weisheit Kreisläufe und Schriften?
Sucht in ihnen, wer euch schuf.
Solange die Schöpfung ihr Amt für eure Bedürfnisse erfüllt
habt ihr nicht volle Freude.
Ist Schöpfung aber in Dürre vergangen,
finden Erwählte höchste Freude im Leben aller Freuden."
Hildegard von Bingen - LVM III
Und ich sah, wie der Mann sich nach Westen wandte,
so, dass er nach Westen und Norden sah.
Und sieh, auf jeder Schulter hatte er einen Flügel,
die bedeckten seine Arme,
einen Flügel auf seinem Rücken,
einen Flügel auf seiner Brust.
Alle wie zum Fliegen aufgestellt.
Der Flügel auf seinem Rücken
neigte sich mit seiner Spannenspitze
ganz zum linken, nicht zum rechten Flügel.
Der Flügel auf seiner Brust
war an seiner Spannenspitze wie zweigeteilt,
so dass sich der eine Teil zum linken Flügel,
der andere zum rechten Flügel bog.
In der Mitte jedes Flügels erschien ein Buch.
...
Hildegard von Bingen LVM II