Bildung & Brauchtum
Das dritte Bild hatte Menschengestalt.
Nur waren seine Hände mit Stacheln bewehrt.
Seine Beine und Füße ähnelten denen von Kranichen.
Auf seinem Kopf trug es eine Kappe aus stachligem Gras,
hatte schwarzes Gewand angezogen.
Hielt in seiner Rechten etwas wie ein grünes Zweiglein,
in seiner Linken tatsächlich ein paar Blumen.
Betrachtete sie mit großer Sorgfalt und sprach:
INANIS GLORIA - LEERER RUHM
Betrachte alle Dinge umsichtig.
Bin selbst mein Zeuge,
sie in meiner Begabung sehr gut zu verstehen.
Sehe und weiß ich das:
Wie kann schicklich sein, Ehrlichkeit darüber aufzugeben?
In meiner Begabung vertraue ich darauf,
über Dörfer und Straßen zu fliegen,
wie Zugvögel, die in Wäldern wohnen und singen,
was sie wollen.
Ihren Gesang will ich lernen, will zwitschern wie sie.
Mische das mit menschlichem Gefühl.
Übe Manieren der Bestien bei Hofe
in mädchenhafter Schönheit.
Stelle alles, was mein ist, heraus.
Dass alle, die mich sehen, sich daran freuen,
alle, die mich hören, mich dafür ehren,
alle mich bewundern für meine Begabung.
Denn unter Zugvögeln bin ich ein Lautenschlag.
Unter Bestien ein Höfling.
Unter Menschen ein Weiser.
Ziehe allen Frohsinn an mit lobenswertem Scherz.
Wie ich das mache, wer gleicht mir darin?
Fragte ich nichts, bekäme ich nichts.
Heischte ich nicht, gäbe man mir nichts.
Kein Wohlstand gehört mir,
erringe ich ihn nicht durch Verstand
- und meine Begabung.
Ist jemandem lästig oder zu schwer,
dass ich weise und begabt bin,
achte ich das für nichts,
sondern will meinen Ruhm.
Warum sollte das Gott lästig sein?
Hat er mich doch so geschaffen?
Wieder hörte ich wie aus der Sturmwolke
eine Stimme diesem Bilde Antwort gab:
TIMOR DEI - Achtung vor Gott
So sehr du nichts fürchtest,
so sehr du jedes Ding im Raub plünderst:
Bist schlimmste Leere sehr schlimmen Idols.
Was kann der Mensch schaffen ohne Gottes Gnade?
Gar nichts.
Dreht der Mensch seines Bewusstseins Rad
hinab in Eitelkeit, fällt ihn Gott.
Aber hebt er sich zum Guten, stützt ihn Gott.
Willst aber alles tun, was du dir erdacht.
Beginnst du aber, zu handeln,
wendet sich dein Kopf in eine Richtung,
heben sich aus Gottes Rat
deine Füße in eine andere.
Beschämst das Wasser der Taufe.
Suchst nicht Gottes Heilmittel.
Willst nichts von dem, was des Lebens ist.
Habe aber Gottes Ehre,
betrachte jeden Fehler, wie er ist,
wiege ihn nicht minder, als er ist,
und meide ihn.
Atme aber auch in Gottes Liebe,
ehre sein Urteil,
freue mich an seinem Lohn.
Verdiene wie Anteil an höheren Freuden?
Indem ich Fehlergräuel meide,
Weltenprunk verlasse,
mich hüte, dass in mir kein Leibeswimmeln brennt,
sondern achte, nicht gerne in Verfehlungen zu sein.
Suche denn in der Schöpfung nicht
jeden beliebigen Anlass zur Verfehlung.
Mühe mich vielmehr, in ihr zu weiden.
So gibt Gott mir, mich am Lebensholz zu nähren.
Es zeigt, dass es Gott im Menschen
nie an guten Werken mangelt,
wie sehr Widersachers viele Widerstände
den Menschen auch gefährden mögen.
Gott selbst
machte den guten Menschen zum guten Grund,
dass seine Werke sehr, sehr heilig,
der Mensch auch Haus der Gotteswohnung sei.
So soll der Mensch reden und sich einprägen,
will auch er im Hause Gottes wohnen.
Wertlose Pest, dich aber nennt keiner höchste Ehre.
Hildegard von Bingen - LVM III
Das zweite Bild, sah ich, hatte Monstergestalt.
Kopf, Schultern und Arme ähnelten etwa einem Menschen.
Nur die Hände waren wie die eines Bären,
Brust, Bauch und Rücken über Menschenmaß gedehnt.
Ab den Lenden ähnelte es wieder einem Mensch.
Hatte nur hölzerne Füße.
Sein Kopf war feurig.
Spuckte Flammen mit seinem Mund.
Trug kein weiteres Gewand,
sondern war ganz in Finsternis gebunden.
Beugte seine rechte Schulter über die Schatten.
Sprach:
INVIDIA - Neid
Hüte und bewache alles Übermaß.
Vertreibe alle fruchtbare Grünkraft, wo ich will.
Unterdrücke passende Worte.
Wären sie so zahlreich wie das Meer weit,
klug wie Schlangen, ich zermahle sie.
Mir können sie nicht widerstehen.
Denn ich heiße Abgrund.
Ziehe so viele an mich.
Besudele alles, was Gott wirkt.
Kann ich Leuchtendes nicht haben,
achte ich es für nichts.
Benetzen mich jene, die mich Nacht nennen,
mit ihren Wassern, trockne ich schnell.
Richte auch meine Rede wie Pfeile in die Finsternis,
verletze, die sich recht im Herzen nennen.
Denn wie Sturm sind meine Kräfte.
Alles, was mein, gebe ich dem Hass.
Geringer als ich, nährt er sich an mir.
Und wieder hörte ich aus der Sturmwolke,
wie eine Stimme diesem Bilde Antwort gab:
CARITAS - Liebe
Oh, schärfster Dreck.
Bist wie eine Viper, die sich selber sticht.
Kannst nicht ertragen,
was standhaft und ehrenvoll.
Bist auch der Götzen wider Gott,
vernichtest Völker im Unglauben.
Nennst dich daher zurecht Abgrund.
Der hält allem rechten Maß Übermaß entgegen.
Will alles zerfetzen, was in Weisheit entsteht,
damit an leuchtenden Dingen nichts gelingt.
Bin aber jener Hauch, nähre alle Grünkraft,
bringe Blüten mit reifen Äpfeln hervor.
Bin denn vom Heiligen Geist
in aller Eingebung belehrt.
Lasse so hellste Bäche springen
wie Tränen einer guten Sehnsucht.
Bringe in sehr heiligen Werken
aus Tränen Wohlgeruch hervor.
Bin aber auch Regen,
wehe herab von jenem Tau.
Aus ihm lachen in frohem Leben
alle Grashalme mich an.
Trägst aber böswilligstes,
schlimmstes Gift in deinen Schwänzen.
Kannst das aber nicht vernichten.
Je mehr du wütest, umso mehr wächst es an.
Wo du dich sterblich zeigst,
leben jene Kräfte,
zeigen sich in Gottes Macht
als des Weinstocks Blüten.
Bist aber lästerhafter Frevel in der Nacht,
Teufelszischen, und begehrst nichts anderes.
Sagst in deinen Größenwahn:
Völker ziehe ich an, zahlreicher als das Meer weit.
Aber scheiterst.
Wirke denn Tag und Nacht
die Kraft der Gleichheit und der Guten Tat.
Breite denn meinen Mantel über Tag und Nacht.
Vollende tags alle guten Werke.
Salbe sämtlichen nächtlichen Schmerz.
So kann mich in keinem beider Teile
jemand verklagen.
Bin denn umsichtigste Freundin an Gottes Thron.
Keinen Ratsschluss verhehlt mir Gott.
Mein ist das königliche Brautgemach.
Alles, was Gottes ist, ist auch mein.
Wo aber Gottes Sohn mit seinem Gewand
Menschenfehler fort wischt,
verbinde ich Wunden mit sanftestem Leinen.
Aber du wirst rot.
Denn der bessere Teil gehört dir nicht.
Hildegard von Bingen - LVM III
Das erste Bild hatte ein Frauengesicht.
Seine Augen waren feurig,
seine Nase verschmiert und schmutzig,
sein Mund geschlossen.
Arme und Beine fehlten.
Doch auf jeder Schulter war ein Flügel wie Wespenflügel,
so dass sich der rechte nach Osten,
der linke nach Westen streckte.
Es hatte eine Männerbrust,
Knie und Füße waren die einer Heuschrecke,
so dass Bauch und Rücken fehlten.
Ich sah, dass weder Haare noch Kleidung
seinen Kopf und übrigen Körper bedeckten,
war es nicht sogar ganz in Finsternis gebunden,
außer, dass sich ein sehr dünner Faden
wie ein goldener Ring an der Oberfläche
am Wirbel unter seinem Kinn zu beiden Seiten zog.
Es sprach:
SUPERBIA - Stolz
Ich schreie über die Berge. Wer gleicht mir?
Meinen Mantel breite ich über Hügel und Lande,
will nicht, das jemand gegen mich ankämpft.
Ich kenne keinen, der mir gleicht.
Und ich hörte eine Stimme aus der Sturmwolke,
die sich von Süden nach Westen erstreckte,
diesem Bilde antworten:
HUMILITAS - Erdgebundne Bodenständigkeit (Demut)
Bin Säule von Wolken.
Warum sollte ich nicht ertragen,
wenn man mich mit schrecklichem Unrecht
erschüttern will?
Stieg doch der Schöpfer selbst vom Himmel herab,
den Menschen an sich zu ziehen?
Wohnte mit dem Schöpfer auf höchsten Höhen,
stieg mit ihm zur Erde hinab.
Wohne so in allen Ländern der Erde.
Kann so auch keine falschen Worte reden,
wie würde ich sagen,
'Bin dies und jenes', bin ich es nicht.
Sagte ich dies, wäre ich nicht die Sonne,
die Finsternis erhellen kann.
Denn durchdringe mit Gott alle Dunkelheiten.
So kann auch kein Sturm mich erschüttern,
denn bin mit Gott auch im vollen Maß seiner Güte.
Hildegard von Bingen - LVM III
Und ich sah, wie sich der Mann nach Norden wandte,
so dass er Norden und Osten sah.
Unter dem Himmelsgewölbe
dienten Winde, Luft, Grünkraft der Erde,
in denen der Mann
von seinen Hüften bis zu seinen Knien stand,
dem Mann von den Hüften zu den Knien wie ein Gewand.
Feuer und Leuchten der Luft schmückten dieses Kleid.
Von seinen Lenden gingen Elementarkräfte aus und
kehrten wieder, atmete der Mann aus und ein.
Und aus den Elementen der Welt hörte ich
zum Mann eine laute Stimme sagen:
"Wir können nicht laufen, unsere Bahn vollenden,
wie uns von unserem Meister bestimmt.
Mit ihrem schiefen Werk zerstören uns die Menschen
wie ein Mahlwerk.
So stinken wir wie Pest,
hungern völlig nach Gerechtigkeit."
Ihnen antwortete der Mann:
"Reinige Euch mit meiner Absicht wie mit Besen.
Peinige die Menschen so lange,
bis sie von überall zurückkehren zu mir.
Bereite in dieser Zeit viele Herzen nach meinem Herzen.
Reinige Euch, so sehr Ihr verdreckt,
in der Pein derer, die euch verdrecken.
Wer kann mich mindern?
Winde sind rauh geworden vom Gestank.
Luft erbricht Schmutz,
öffnen Menschen ihren Mund nicht,
das richtig zu stellen.
Grünkraft verdorrt
durch verdrehter Massen unrechten Aberglauben,
jedes Ding nach ihren Wünschen zu richten,
zu sagen:
"Wer ist dieser Herr, den wir niemals sehen?"
Antworte ihnen:
"Seht ihr mich denn nicht Tag und Nacht?
Seht ihr mich denn nicht, wenn ihr sät,
Regen Saat tränkt, so dass alles wächst?
Die ganze Schöpfung strebt zu ihrem Schöpfer.
Da Einer sie gemacht, versteht er sie vollkommen.
Aber der Mensch ist Aufwiegler,
teilt seinen Schöpfer in mehrere Geschöpfe.
Wer schuf in Weisheit Kreisläufe und Schriften?
Sucht in ihnen, wer euch schuf.
Solange die Schöpfung ihr Amt für eure Bedürfnisse erfüllt
habt ihr nicht volle Freude.
Ist Schöpfung aber in Dürre vergangen,
finden Erwählte höchste Freude im Leben aller Freuden."
Hildegard von Bingen - LVM III