No. 11 Dritte Fastenwoche - LVM III
'Die Klage der Elemente'
'Die Klage der Elemente'
'Auf den Flügeln der Schau'
"Tradition ist nicht die Anbetung der Asche,
sondern die Weitergabe des Feuers."
Thomas Morus - Jean Jaures - Gustav Mahler
Wir arbeiten
in Kultur, Bildung und Brauchtum,
im Blick auf Natur-, Kultur- und Geistesgeschichte.
Wir forschen und entwickeln
in Projekt, Produktion und Publikation,
in Programm und Werkstatt,
in Material, Modul und Ausstellung.
Wir finden Formen und Wege, Verfahren und Vorgehensweisen.
Wir arbeiten zu Leben und Werk der Hildegard von Bingen,
zur Fülle und Tiefe ihrer Weltsicht und Werke,
und zu verwandten antiken wie globalen Traditionen.
Wir arbeiten interkulturell
mit ganzheitlichem Blick auf globale historische Bezüge,
auf Kulturen, Traditionen, Deutungen und Überlieferungen.
SCHOLA provides studies and research,
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books and publications.
Das dritte Bild hatte Menschengestalt.
Nur waren seine Hände mit Stacheln bewehrt.
Seine Beine und Füße ähnelten denen von Kranichen.
Auf seinem Kopf trug es eine Kappe aus stachligem Gras,
hatte schwarzes Gewand angezogen.
Hielt in seiner Rechten etwas wie ein grünes Zweiglein,
in seiner Linken tatsächlich ein paar Blumen.
Betrachtete sie mit großer Sorgfalt und sprach:
INANIS GLORIA - LEERER RUHM
Betrachte alle Dinge umsichtig.
Bin selbst mein Zeuge,
sie in meiner Begabung sehr gut zu verstehen.
Sehe und weiß ich das:
Wie kann schicklich sein, Ehrlichkeit darüber aufzugeben?
In meiner Begabung vertraue ich darauf,
über Dörfer und Straßen zu fliegen,
wie Zugvögel, die in Wäldern wohnen und singen,
was sie wollen.
Ihren Gesang will ich lernen, will zwitschern wie sie.
Mische das mit menschlichem Gefühl.
Übe Manieren der Bestien bei Hofe
in mädchenhafter Schönheit.
Stelle alles, was mein ist, heraus.
Dass alle, die mich sehen, sich daran freuen,
alle, die mich hören, mich dafür ehren,
alle mich bewundern für meine Begabung.
Denn unter Zugvögeln bin ich ein Lautenschlag.
Unter Bestien ein Höfling.
Unter Menschen ein Weiser.
Ziehe allen Frohsinn an mit lobenswertem Scherz.
Wie ich das mache, wer gleicht mir darin?
Fragte ich nichts, bekäme ich nichts.
Heischte ich nicht, gäbe man mir nichts.
Kein Wohlstand gehört mir,
erringe ich ihn nicht durch Verstand
- und meine Begabung.
Ist jemandem lästig oder zu schwer,
dass ich weise und begabt bin,
achte ich das für nichts,
sondern will meinen Ruhm.
Warum sollte das Gott lästig sein?
Hat er mich doch so geschaffen?
Wieder hörte ich wie aus der Sturmwolke
eine Stimme diesem Bilde Antwort gab:
TIMOR DEI - Achtung vor Gott
So sehr du nichts fürchtest,
so sehr du jedes Ding im Raub plünderst:
Bist schlimmste Leere sehr schlimmen Idols.
Was kann der Mensch schaffen ohne Gottes Gnade?
Gar nichts.
Dreht der Mensch seines Bewusstseins Rad
hinab in Eitelkeit, fällt ihn Gott.
Aber hebt er sich zum Guten, stützt ihn Gott.
Aber willst alles tun, was du dir erdacht.
Beginnst du aber, zu handeln,
wendet sich dein Kopf in eine Richtung,
heben sich aus Gottes Rat
deine Füße in eine andere.
Beschämst das Wasser der Taufe.
Suchst nicht Gottes Heilmittel.
Willst nichts von dem, was des Lebens ist.
Habe aber Gottes Ehre,
betrachte jeden Fehler, wie er ist,
wiege ihn nicht minder, als er ist,
und meide ihn.
Atme aber auch in Gottes Liebe,
ehre sein Urteil,
freue mich an seinem Lohn.
Verdiene wie Anteil an höheren Freuden?
Indem ich Fehlergräuel meide,
Weltenprunk verlasse,
mich hüte, dass in mir kein Leibeswimmeln brennt,
sondern achte, nicht gerne in Verfehlungen zu sein.
Suche denn in der Schöpfung nicht
jeden beliebigen Anlass zur Verfehlung.
Mühe mich vielmehr, in ihr zu weiden.
So gibt Gott mir, mich am Lebensholz zu nähren.
Es zeigt, dass es Gott im Menschen
nie an guten Werken mangelt,
wie sehr Widersachers viele Widerstände
den Menschen auch gefährden mögen.
Gott selbst
machte den guten Menschen zum guten Grund,
dass seine Werke sehr, sehr heilig,
der Mensch auch Haus der Gotteswohnung sei.
So soll der Mensch reden und sich einprägen,
will auch er im Hause Gottes wohnen.
Wertlose Pest, dich aber nennt keiner höchste Ehre.
Hildegard von Bingen - LVM III
Das zweite Bild, sah ich, hatte Monstergestalt.
Kopf, Schultern und Arme ähnelten etwa einem Menschen.
Nur die Hände waren wie die eines Bären,
Brust, Bauch und Rücken über Menschenmaß gedehnt.
Ab den Lenden ähnelte es wieder einem Mensch.
Hatte nur hölzerne Füße.
Sein Kopf war feurig.
Spuckte Flammen mit seinem Mund.
Trug kein weiteres Gewand,
sondern war ganz in Finsternis gebunden.
Beugte seine rechte Schulter über die Schatten.
Sprach:
INVIDIA - Neid
Hüte und bewache alles Übermaß.
Vertreibe alle fruchtbare Grünkraft, wo ich will.
Unterdrücke passende Worte.
Wären sie so zahlreich wie das Meer weit,
klug wie Schlangen, ich zermahle sie.
Mir können sie nicht widerstehen.
Denn ich heiße Abgrund.
Ziehe viele so an mich.
Besudele alles, was Gott wirkt.
Kann ich Leuchtendes nicht haben,
achte ich es für nichts.
Benetzen mich jene, die mich Nacht nennen,
mit ihren Wassern, trockne ich schnell.
Richte auch meine Rede wie Pfeile in die Finsternis,
verletze, die sich recht im Herzen nennen.
Denn wie Sturm sind meine Kräfte.
Alles, was mein, gebe ich dem Hass.
Geringer als ich, nährt er sich an mir.
Und wieder hörte ich aus der Sturmwolke,
wie eine Stimme diesem Bilde Antwort gab:
CARITAS - Liebe
Oh, schärfster Dreck.
Bist wie eine Viper, die sich selber sticht.
Kannst nicht ertragen,
was standhaft und was ehrenvoll.
Bist auch der Götzen wider Gott,
vernichtest im Unglauben Völker.
Nennst dich daher zurecht Abgrund.
Der hält allem rechten Maß Übermaß entgegen.
Will alles zerfetzen, was in Weisheit entsteht,
damit an leuchtenden Dingen nichts gelingt.
Bin aber jener Hauch, nähre alle Grünkraft,
bringe Blüten mit reifen Äpfeln hervor.
Bin denn belehrt in aller Eingebung
von Heiligem Geist.
Lasse so wie Tränen guter Sehnsucht
hellste Bäche springen.
Bringe in sehr heiligen Werken
aus Tränen Wohlgeruch hervor.
Bin aber auch Regen,
wehe herab von jenem Tau.
Aus ihm lachen in frohem Leben
alle Grashalme mich an.
Trägst aber böswilligstes,
schlimmstes Gift in deinen Schwänzen.
Kannst das aber nicht vernichten.
Je mehr du wütest, umso mehr wächst es an.
Wo du dich sterblich zeigst,
leben jene Kräfte,
zeigen sich in Gottes Macht
als des Weinstocks Blüten.
Bist aber lästerhafter Frevel in der Nacht,
Teufelszischen, und begehrst nichts anderes.
Sagst in deinen Größenwahn:
Völker ziehe ich an, zahlreicher als das Meer weit.
Aber scheiterst.
Wirke denn Tag und Nacht
die Kraft der Gleichheit und Guten Tat.
Breite denn meinen Mantel über Tag und Nacht.
Vollende tags alle guten Werke.
Salbe sämtlichen nächtlichen Schmerz.
So kann mich in keinem beider Teile
jemand verklagen.
Bin denn umsichtigste Freundin an Gottes Thron.
Keinen Ratsschluss verhehlt mir Gott.
Mein ist das königliche Brautgemach.
Alles, was Gottes ist, ist auch mein.
Wo aber Gottes Sohn mit seinem Gewand
der Menschen Fehler fort wischt,
verbinde ich Wunden mit sanftestem Leinen.
Aber du wirst rot.
Denn der bessere Teil gehört dir nicht.
Hildegard von Bingen - LVM III
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