LVM IV Concordia – Discordia
Ich sah ein anderes Bild kopfüber
an den Füßen hängen in Finsternis.
Es hatte einen Leopardenkopf.
Sein übriger Körper ähnelte einem Skorpion.
Es hatte sich nach Süden und Westen gewandt, sprach:
DISCORDIA - Zwietracht
Osten verneine ich, Süden will ich nicht.
Osten will alles haben, Süden alles ertragen.
Was können sie Norden und Westen entgegen halten?
Morgenröte enthält Sonnenlicht und färbt es.
Aber Westen trägt Finsternis.
Vermag Norden etwas? er kann.
Denn Finsternis verdunkelt die Sonne.
Sie zu mindern, kommt Sonne Finsternis nicht nah.
Norden erhält, was sich bewegt im Finstern.
Was vermögen Vögel unter dem Himmel,
was auf der Erde Vieh und Wild?
Haben Fische im Meer etwas an Möglichkeit in ihren Arten?
Sie handeln, wie sie können.
Ich wohne in alldem, entscheide,
was sie sind, was sie tun können.
Wie das Rad unterwerfe ich
Edle und Unedle, Reiche und Arme.
Betrachte einen so, habe Ekel vor dem andern.
Bleibe aber, solang es mir gefällt.
Jeder, ob reich, ob arm, ob edel, ob unedel,
handle, wie er kann. So mache ich das auch.
Denn auch Osten und Süden handeln so.
Wieder hörte ich eine Stimme aus der Sturmwolke,
die diesem Bilde Antwort gab:
CONCORDIA - Eintracht
Fluch und Abscheu, was redest du?
Kannst du den Himmel, seine Anordnung zerstören?Auf keinen Fall.
Nicht einmal eine Maus bringst du zustande.
Bringst allen Unfug vor, zu streiten.
Führst tausendfaches Wortgequake an,
eine Stadt zu zerstören. Kannst sie so nicht stürzen.
Kannst du Sonne und Sterne bekämpfen? Nein.
Der Sonne Aufblitzen macht Staub aus dir.
Beginnst du, den ersten zu bekämpfen,
landest Du im Abgrund.
Machst nicht mehr als, was du in Schöpfung siehst.
Beherrschst die, wie das Rind seinen Herrn.
Alles besitzt gleich der Sonne mannhaft Stärke.
Wie schwache Frauenzimmer überwindet sie
das Himmelszelt und seine anderen Lichter.
Bewährst dich aber in keinem von beidem.
Sondern bist nutzlos in allem.
Machst Gottes Werke zum Skandal.
Nichts ist, dem alles Gute fehlt.
Verachtete die übrige Schöpfung Gott so,
wie du sie verachtest,
nähme doch seine Macht nicht ab.
Denn Urteilsmacht hat er über dich,
den Abgrund, die Finsternis und alles, was darin.
Hildegard von Bingen - LVM IV