LVM I/6 Ira - Patientia
Das sechste Bild hatte ein Menschengesicht.
Nur war sein Mund wie der Fang eines Skorpions,
das Augenweiß über die Pupillen hinaus verzerrt.
Seine Armen ähnelten denen eines Menschen.
Aber seine Hände waren gekrümmt mit langen Klauen.
Es hatte Brust, Bauch und Rücken wie ein Krebs,
Beine wie eine Heuschrecke, Füße wie eine Viper.
War in ein stehendes Mahlwerk gespannt,
hielt so mit seinen Händen dessen obere Räder,
stand mit seinen Füßen über den unteren.
Hatte keine Haare auf dem Kopf,
war nackt am ganzen Körper.
Sein Mund stieß große Feuer aus wie Fackelbrände.
Es sprach.
IRA – Zorn
Zertrete alles.
Strecke nieder, was mir Unrecht tut.
Was soll ich Unrecht ertragen?
Was keiner will, dass ich über ihn bringe,
füge er mir nicht zu.
Mit dem Schwert verletze ich.
Wehre mich mit Stöcken,
fügt jemand mir Unrecht zu.“
Wieder hörte ich aus besagter Wolke
eine Stimme diesem Bilde antworten:
PATIENTIA – Geduld (Fähigkeit, Auszuhalten)
Erklang in höchsten Höhen,
berührte die Erde,
taute aus ihr wie Balsam hervor.
Bist aber voll Trug. Trinkst Blut.
Bist stets auf der Spitze.
Bin aller Grünkraft süßes Aroma.
Bringe aller Kräfte Blüten und Früchte hervor.
Stelle feste Bauten in den Menschengeist.
Vollende so alles, was ich beginne.
Beharre.
Vernichte niemanden.
Halte vielmehr alles in Ruhe.
Und niemand verdammt mich.
Errichtest du einen Schatzturm,
zerstöre ich ihn mit einem Wort.
Zerstreue all seine angehäufte Beute.
So gehst du unter.
Aber ich bleibe ewig.
Hildegard von Bingen - LVM I