Das fünfte Bild sah ich in Frauengestalt.
An seinem Rücken stand ein Baum,
vollkommen vertrocknet, ohne Blätter,
in dessen Zweige war das Bild verstrickt.
Ein Zweig bedeckte seinen Scheitel,
einer lag um Hals und seine Kehle.
Einer legte sich über den rechten Arm,
einer um den linken.
Seine Arme streckte es dennoch nicht aus,
sondern legte sie um sich mit Händen,
von denen Zweige hingen
und Klauen, einer Krähe ähnlich.
Auch kam auf seiner rechten und linken Seite
je ein Zweig hervor,
umgaben übereinander seinen Bauch und seine Knie,
waren verwickelt ineinander.
Seine Füße aber waren aus Holz.
Keine anderen Gewänder hatte es,
außer der Art, in der Zweige es umgaben.
Böse Geister kamen aus der Finsternis
mit schwarzem Nebel und großem Gestank,
bedrängten es.
Es lehnte sich zurück. Seufzte ihnen zu. Sprach:
TRISTITIA SAECULI - Weltschmerz
Weh, dass ich geschaffen.
Weh, dass ich lebe.
Wer wird mich befreien?
Wüsste Gott von mir,
wären um nicht nicht solche Gefahren.
Auf Gott zu vertrauen, bringt mir nichts Gutes.
Mich mit ihm zu freuen, hält mir Böses nicht fern.
Viele Weise höre ich lehren, in Gott sei viel Gutes.
Nichts Gutes aber tat mir Gott in alledem.
Gibt es meinen Gott,
was verbirgt er mir all seine Gnade?
Lässt jemand mir Gutes zukommen, kenne ich ihn.
Aber weiß nicht, was ich bin.
Gezeugt in Unglück, in Unglück geboren, lebe ich trostlos.
Ach, was nutzt mir Leben ohne Freude?
Bin warum geschaffen, ist mir nichts Gutes?
Und wieder hörte ich, wie eine Stimme aus der Sturmwolke diesem Bilde Antwort gab:
CAELESTIS GAUDIUM - Himmelsfreude
Blinde, Taube -
Weißt nicht, was du sagst.
Gott schuf den Menschen leuchtend.
In diesen See von Unheil führte ihn
in seinem Treuebruch die Schlange.
Betrachte nun Sonne, Mond, die Sterne
und allen Schmuck an Grünkraft auf der Erde.
Bedenke, welch großen Reichtum Gott darin
den Menschen gibt,
fehlt doch der Mensch in großem Leichtsinn
gegen Gott.
Bist trughaft, listig, treulos.
Setzt stets Vertrauen auf die Hölle.
Weißt nicht, bedenkst nicht,
dass Heilung kommt von Gott.
Wer gibt dir,
was du hast an Lichtem und an Gutem,
wenn nicht Gott?
Kommt Tag zu dir, nennst du ihn Nacht.
Ist Heilung bei dir, nennst du sie Verfluchung.
Sind all deine Dinge und Angelegenheiten gut, nennst du sie böse.
So bist du in der Hölle.
Halte aber den Himmel.
Denn betrachte richtig, was Gott erschaffen,
was du schädlich nennst.
Versammle Blumen, Rosen, Lilien, alle Grünkraft sanft in meinem Schoss,
lobe ich alle Gottes Werke.
Sammelst dir in ihnen Schmerzensschmerzen,
bist du in all deinen Werken traurig.
Ähnelst Höllengeistern,
wie sie in ihrem Werk Gott stets verneinen.
Handle so nicht,
sondern übereigne Gott alle meine Werke.
So ist in gewisser Traurigkeit Freude,
kein Wohlstand aber in gewisser Freude,
wie Tag ist und wie Nacht.
Denn wie Gott Tag und Nacht erschaffen,
so sind auch Handlungen der Menschen.
Baut einer aus Missgunst eine Festung,
zerstört Gott sie schnell.
Wünscht Leib Ausschweifung,
erschüttert Gott ihn rasch und schlägt ihn nieder.
Will Leibeslust in leerem Ruhm
das Himmelsrund umkreisen,
sprengt sie Gott, sie zu erschüttern.
Das ist recht und richtig.
Betrachte nun,
wie des Himmels Vögel, wie schlimmstes Gewürm beschaffen.
So sehr sie einander schlingen,
sind sie nütz wie unnütz.
Und so sind Gunst und Widerstand der Zeit.
Im Ganzen nicht zu verwerfen,
reinigen sie Nützes vom Unnützen,
Unnützes vom Nutzen,
wie Gold im Schmelzofen geläutert wird.
Stimmst Unnützem zu. Das mache ich nicht.
Sondern achte Nutzen und Nutzloses so,
wie Gott sie eingerichtet.
Denn Seele bezeugt den Himmel,
Leib Erde.
Leib prallt auf die Seele,
Seele lähmt den Leib.
Dumme, Blinde -
Daher bedenke, was du sagst.
Hildegard von Bingen - LVM VI